Teil III: Durch Abchasien
Dienstag, 25. Januar 2011
Mittwoch 9. Juni 2010: Sugdidi, Grenze Georgien-Abchasien, Gali, Otschamtschire (124 km)
Heilfroh bin ich, als der Tag anbricht. Es geht nach Sugdidi, der letzten georgischen Stadt vor der abchasischen Grenze. Entlang der Straße stehen Ruinen neben bewohnten, eleganten Villen mit gebügeltem Rasen (Foto). Und es begegnet mir, nach Akhmeta und Stepantsminda, die dritte Stalin-Statue außerhalb seiner Geburtsstadt Gori, d.h. in dem Fall nur eine Büste (Foto). An einem heruntergekommenen Kiosk suchen der Besitzer und ich ein Frühstück zusammen. Wir riskieren einen Blick in den nicht-aktivierten Kühlschrank, in dem es ganz schön schimmelt und wuchert. Siehe da, ein Trinkjoghurt, er ist tatsächlich nur außen verschimmelt und erst vor kurzem abgelaufen, was will man mehr? Milchprodukte waren in ganz Georgien außerhalb der Städte eine Seltenheit.
Über Sugdidi hatte ich im Vorfeld gelesen, man sollte seinen Aufenthalt dort auf ein Minimum begrenzen. Es gibt soziale Spannungen, da die Stadt wegen der Nähe zu Abchasien einen Großteil der etwa 250'000 georgisch-abchasischen Flüchtline aufnehmen musste, was die Einwohnerzahl schlagartig verdoppelt hat. Der Anteil der Georgier, die Abchasien lieber heute als morgen zurückerobern möchten, ist hier höher als sonstwo in Georgien. Selbst der Limoverkäufer am Straßenrand trägt seinen Revolver am Hosenbund sehr demonstrativ. Abgesehen davon gibt es das sehenswerte Dadiani-Museum mit gepflegtem französichen Park, erbaut von einem Enkel der Schwester Napoleon Bonapartes. Es beherbergt u.a. eine der drei Totenmasken Napoleons. In keiner Bank in Sugdidi komme ich übrigens an Rubel, weder mit Bargeld, noch mit Karte. Jetzt habe ich nur noch ein paar Euronoten in der Hinterhand.
Die Aufregung steigt, nur noch wenige Kilometer sind es bis zur abchasischen Grenze.
Nun geht es los: als erstes kommt der kleine georgische Grenzposten, wo mein Name in ein Buch eingetragen wird und ich keinen Ausreisestempel bekomme. Das übrigens auch später nicht, ich bin also bis heute nicht offiziell aus Georgien ausgereist, was heißt, dass ich mit diesem Pass eigentlich nicht wieder nach Georgien einreisen kann. Und schon habe ich Ärger am Hals: nur vermeintlich unbeobachtet hatte ich nämlich hinter dem Häuschen meine kleine zerfledderte Georgien-Papierfahne vom Gepäckträger in die Mülltonne geworfen und diesen Vorgang auch noch fotografiert! Dumm gelaufen, die Georgier sind sehr verstimmt. Schnell hole ich sie wieder aus der Mülltonne, stecke das zerfledderte Ding auf mein Fahrrad, lösche das Foto brav for ihren Augen und entschuldige mich hundert mal. Das hätte noch gefehlt, dass die mir einen Strick drehen.
Dann geht es die 1000 Schritte über den Enguri Fluss, d.h. über die 1944-48 von deutschen Kriegsgefangenen erbaute Brücke. Außer mir gibt es vor allem die Frauen in schwarzer Witwenkleidung, es ist alles noch ziemlich so wie in dem Bericht "Die Brücke der Deutschen" aus 2004. Auf der Brücke steht nochmal ein Checkpoint, wo ich kontrolliert werde. Jenseits des Flusses kommt der russische Grenzposten. Auf youtube hatte ich zuvor gesehen, wie ein BBC Reoprter dort immer wieder abgewiesen wurde, und zwar ohne Diskussion einfach "kicked out" (Video ab 3'22 aus der übrigens sehr sehenswerten Reihe "Places that don't exist"). Offenbar kommt hinter der Grenze eine Gegend, die man der Welt nicht so gerne zeigen will. Ich zähle auf meine vor fünf Tagen per Mail als pdf-Anhang erhaltene und ausgedruckte "Clearance", die Einreiseerlaubnis vom abchasischen Außenministerium. Vorsichtig schiebe ich mein Rad im Slalom durch die Betonsperren. An Fahrzeugen gibt es ansonsten nur Pferdekutschen wie in alten Westernfilmen, später Marschrutki, also Kleinbusse. Jetzt nur nichts falsch machen. Und was ist? Die russischen Beamten sind supernett, fast kumpelhaft, passt alles, und schon bin ich durch. Mir kommt es vor, als hätte man zudem als weitgereister Radfahrer einen gewissen Sympathie-Vorsprung bei den auftrainierten, waschbrettbäuchigen Russen. "Bis nachher" sagen sie noch, sie werden mich ja nach Dienstschluss überholen, es gibt hier nur die eine Hauptstraße. Und dann bin ich drin!!! Mir ist, als hätte ich soeben einen Zauberwald betreten, ich kann mein Glück kaum fassen.
Es ist seltsam, ohne mit einer Menschenseele gesprochen zu haben, und obwohl die Südhälfte von Abchasien als Konfliktregion gilt, und immer noch Reisewarnungen vom Auswärtigen Amt ausgesprochen werden, fühle ich mich von Anfang an hier deutlich sicherer als auf der angespannt-aggressiven georgischen Seite der Grenze. Es geht vorbei an Ruinen über Ruinen von ehemals prächtigen Villen, aus denen Palmen und Rhododendren wuchern. Vereinzelt gibt es georgische Friedhöfe, neben manchen Gräbern steht Wodka für die Verstorbenen zum Trinken bereit.
Die Straße ist hier im Süden meist nicht besonders gut, aber man kann die Schlaglöcher gut umfahren. Nur kurze Abschnitte sind von der UNOMIG repariert. Es gibt wenig Verkehr, nur ab und zu Marschrutki, UN Fahrzeuge, einen hohen Fahrrad-Anteil und immer wieder Kühe, Schweine und Pferde auf der Fahrbahn. Ab und zu stehen Kioske am Straßenrand, die Versorgungslage ist gesichert.
Die Stadt Gal, die in den Reisewarnungen als besonders kritisch erwähnt wird, ist tatächlich in einem extrem desolaten Zustand und ziemlich entvölkert. Praktisch kein unbeschädigtes Haus ist zu sehen. An der zentralen Kreuzung gibt es überraschend einen Wasserhahn mit Trinkwasser. Ich mache eine Siesta unter einem Baum. Beim Aufwachen kommen drei Kinder mit Hund vorbei, die mir andeuten, ich solle mich nicht vom Fleck rühren. Kurz danach bringen sie mir eine Tüte voller pflaumenartiger Früchte vorbei. Oh, das reicht für zwei Wochen.
Wieder im Sattel, überholen mich tatsächlich die Russen von der Grenze. Sie bleiben quer vor mir stehen, zwingen mich zum Absteigen und erklären mir genau, wo ich das Außenministerium in Suchum finde (Lakoba 21). Ich bekomme noch eine Handynummer, falls es Probleme gibt. Außerdem lästern sie, wenn ich weiter so sandel, schaffe ich es nicht mehr bis Suchum. Jaja, bin ja grad erst von der Siesta aufgewacht, außerdem möchte ich gar nicht bis Suchum fahren, sondern vorher biwakieren, was ich aber nicht jedem erzählen will.
Kurz vor Otschamtschire wird das Schwarze Meer sichtbar! Wie hatte ich mich darauf gefreut. Seit Jahren kurve ich zum, vom, am Schwarzen Meer herum. Ich bade kurz am leeren Strand mit den schwarzen Kieselsteinen und schlage nach ein paar Stunden stimmungsvoller Fahrt in den Sonnenuntergang hinein neben der Straße mein Nachtlager auf.
*****
Nachtrag I: entgegen meinem persönlichen friedlichen Eindruck als Tourist lese ich nachträglich auf der Homepage des abchasischen Außenministeriums, dass Anfang Juni 2010, also wenige Tage zuvor, in der Region Gal zwei abchasische Beamte georgischen Anschlägen zum Opfer gefallen sind:
"Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Abkhazia is extremely worried by the renewed terrorist activity carried out by the Georgia side. On the 1st of June in Gal district, as the result of attack an officer of the State Customs Committee of the Republic of Abkhazia was killed, moreover and on 4th of June at the hands of terrorists the Head of the administration of the village Rep of Gal district Dmitry Katsia was killed. [...] We also call upon the representatives of the EU monitoring mission, to take the responsibility to carry out their tasks, to prevent a new escalation of the conflict and take necessary measures to prevent such provocations in the conflict zone."
Nun geht es los: als erstes kommt der kleine georgische Grenzposten, wo mein Name in ein Buch eingetragen wird und ich keinen Ausreisestempel bekomme. Das übrigens auch später nicht, ich bin also bis heute nicht offiziell aus Georgien ausgereist, was heißt, dass ich mit diesem Pass eigentlich nicht wieder nach Georgien einreisen kann. Und schon habe ich Ärger am Hals: nur vermeintlich unbeobachtet hatte ich nämlich hinter dem Häuschen meine kleine zerfledderte Georgien-Papierfahne vom Gepäckträger in die Mülltonne geworfen und diesen Vorgang auch noch fotografiert! Dumm gelaufen, die Georgier sind sehr verstimmt. Schnell hole ich sie wieder aus der Mülltonne, stecke das zerfledderte Ding auf mein Fahrrad, lösche das Foto brav for ihren Augen und entschuldige mich hundert mal. Das hätte noch gefehlt, dass die mir einen Strick drehen.
Dann geht es die 1000 Schritte über den Enguri Fluss, d.h. über die 1944-48 von deutschen Kriegsgefangenen erbaute Brücke. Außer mir gibt es vor allem die Frauen in schwarzer Witwenkleidung, es ist alles noch ziemlich so wie in dem Bericht "Die Brücke der Deutschen" aus 2004. Auf der Brücke steht nochmal ein Checkpoint, wo ich kontrolliert werde. Jenseits des Flusses kommt der russische Grenzposten. Auf youtube hatte ich zuvor gesehen, wie ein BBC Reoprter dort immer wieder abgewiesen wurde, und zwar ohne Diskussion einfach "kicked out" (Video ab 3'22 aus der übrigens sehr sehenswerten Reihe "Places that don't exist"). Offenbar kommt hinter der Grenze eine Gegend, die man der Welt nicht so gerne zeigen will. Ich zähle auf meine vor fünf Tagen per Mail als pdf-Anhang erhaltene und ausgedruckte "Clearance", die Einreiseerlaubnis vom abchasischen Außenministerium. Vorsichtig schiebe ich mein Rad im Slalom durch die Betonsperren. An Fahrzeugen gibt es ansonsten nur Pferdekutschen wie in alten Westernfilmen, später Marschrutki, also Kleinbusse. Jetzt nur nichts falsch machen. Und was ist? Die russischen Beamten sind supernett, fast kumpelhaft, passt alles, und schon bin ich durch. Mir kommt es vor, als hätte man zudem als weitgereister Radfahrer einen gewissen Sympathie-Vorsprung bei den auftrainierten, waschbrettbäuchigen Russen. "Bis nachher" sagen sie noch, sie werden mich ja nach Dienstschluss überholen, es gibt hier nur die eine Hauptstraße. Und dann bin ich drin!!! Mir ist, als hätte ich soeben einen Zauberwald betreten, ich kann mein Glück kaum fassen.
Kurz vor Otschamtschire wird das Schwarze Meer sichtbar! Wie hatte ich mich darauf gefreut. Seit Jahren kurve ich zum, vom, am Schwarzen Meer herum. Ich bade kurz am leeren Strand mit den schwarzen Kieselsteinen und schlage nach ein paar Stunden stimmungsvoller Fahrt in den Sonnenuntergang hinein neben der Straße mein Nachtlager auf.
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Nachtrag I: entgegen meinem persönlichen friedlichen Eindruck als Tourist lese ich nachträglich auf der Homepage des abchasischen Außenministeriums, dass Anfang Juni 2010, also wenige Tage zuvor, in der Region Gal zwei abchasische Beamte georgischen Anschlägen zum Opfer gefallen sind:
"Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Abkhazia is extremely worried by the renewed terrorist activity carried out by the Georgia side. On the 1st of June in Gal district, as the result of attack an officer of the State Customs Committee of the Republic of Abkhazia was killed, moreover and on 4th of June at the hands of terrorists the Head of the administration of the village Rep of Gal district Dmitry Katsia was killed. [...] We also call upon the representatives of the EU monitoring mission, to take the responsibility to carry out their tasks, to prevent a new escalation of the conflict and take necessary measures to prevent such provocations in the conflict zone."
Donnerstag, 25. November 2010
Donnerstag 10. Juni 2010: Suchum (60 km)
Es ist schon dunkel, als ich die Hauptstadt verlasse. Von außen kann ich einen Blick in den botanischen Garten werfen. Der Bahnhof am nordwestlichen Stadtrand ist wie der in Sotschi stark von der Petersburger Admiralität inspiriert. Natürlich ist entlang der (einzigen) Straße ab Suchum alles besiedelt. Endlich finde ich ein ruhiges Plätzchen zwischen Kriegsruinen (Fotos s. nächster Tag). Ach ja, und ich habe im Gegensatz zu Georgien nicht die geringsten Probleme, nachts herumzufahren, ich fühle mich absolut sicher.
Freitag 11. Juni 2010: Gagra I (86 km)
Die Nacht ist recht stürmisch, hinter dem Hügel tobt ein ordentliches Gewitter, der gelegentlich herüberschwappende Wind fegt mich fast weg. Genial, die Elemente so hautnah zu erleben. Am Morgen ist alles wieder ruhig und sonnig, als wäre nichts gewesen. Nebenan lädt der glasklare Gumista, der direkt aus dem Kaukasus herunterströmt, zu einem erfrischenden Morgenbad ein. Das sind sie, die glücklichen Momente im Leben. Erst jetzt bei Tageslicht sehe ich, dass in den zerbombten Häusern hier, im Gegensatz zu den bisherigen Ruinen, sogar noch die Einrichtung herumliegt: Möbel, Geschirr, Bücher, Kinderwägen ... das alles ist, wie ganz Abchasien, ein völliger Widerspruch zur Schönheit der Natur und zur ruhigen, friedlichen Gesamtstimmung.
Die mächtige, historische Brücke über den Gumista, ist, wie so vieles in Abchasien, "verziert" mit Bildern von Gefallenen und abchasischen Fähnchen.
Während ich am Straßenrand per Handy was Dringendes mit dem Installateur zu Hause regeln muss, kommt eine armenische Hirtin aus dem Wald und hat ebenfalls Ärger am Hals: Ihre Kühe lassen sich nicht davon abbringen, sich immer wieder mitten auf die Fahrbahn zu pflanzen. Der nächste Höhepunkt ist das malerisch in den Hügel gebaute Kloster Nowy Afon, das man besucht haben muss. Es war Anfang des 20. JH die letzte Klostereröffnung der Russisch-Orthodoxen Kirche vor der Oktoberrevolution 1917. Schon die Aussicht vom Kloster zum Meer ist phantastisch.
Bei der Abzweigung zum Kloster gibt es ein Kriegsmuseum, der Krieg ist wirklich ständig präsent.
In der Nähe von Gudauta liegt am Straßenrand ein Weinmuseum mit Degustationsmöglichkeit. Die Leute sind wieder sehr nett und interessiert bzw. interessant. Ich erfahre (mit Vorbehalt, mein Russisch ist wirklich nur rudimentär), dass 80 % der Abchasen einen russischen Pass haben, und dass der vorerst für 6 Jahre gültig ist. Beim Thema, wie ich heimkomme, sage ich Sotschi und das russische Wort für Flugzeug. Ein Mann antwortet auf deutsch, ah, "Luftwaffe"!! Dann rauscht der Zug Suchum-Moskau vorbei, die Linie ist neuerdings wieder in Betrieb. Kurz vor Gagra habe ich nochmal eine Panne. Der zweite und letzte von meinen beiden Flicken wird verbraucht, das war evtl. doch etwas knapp kalkuliert in meinem Gewichtsspar-Wahn. Jetzt darf also nichts mehr passieren. Aber schließlich hatte ich früher nie mehr als eine Panne. Ein Mann fragt, ob er helfen kann, muss aber gleich seine Kollegen mit dem Auto heimbringen. Er kommt wieder zurück und leiht mir sein Werkzeug (meinen Schraubenschlüssel hatte ich aus Gewichtsgründen unterwegs verschenkt) sowie die dritte Hand, die hier immer fehlt. Dann holt er ungefragt im Laden nebenan Wasser, damit ich meine Hände waschen kann. Diese (unaufdringliche) Hilfsbereitschaft von allen Seiten ist wirklich erstaunlich.
Gagra kann kommen! Es ist der bedeutendste Urlaubsort im Nordwesten Abchasien und wegen der Nähe zur russischen Grenze sehr beliebt bei den Russen. Der Wald verschmilzt hier direkt mit dem Meer, der Sonnenuntergang ist hochdramatisch. Am Strand kann man gut essen. Ich bin etwas unschlüssig, wo ich schlafen soll, denn eigentlich möchte ich evtl. morgen zum Ritsa See hinauf, die Abzweigung liegt südöstlich von Gagra, also ein Stück zurück auf der Haupstraße. Aber ich muss zuvor in Gagra Geld wechseln, in Georgien gab es ja nirgends Rubel, die hier das einzige Zahlungsmittel sind. Deswegen will ich ausnahmsweise in der Stadt schlafen. Zuerst frage ich in einem Hotel-Neubau an, scheint mir am einfachsten. Leider gab es aber ein Missverständnis, ich hatte 15 statt 50 Euro verstanden. Das ist zu teuer, meine paar Euro Scheine müssen bis zum Ende der Tour reichen. Abheben kann man ja nichts. Die freundliche Dame an der Rezeption entschuldigt sich und gibt mir den Tipp, es in einer der Privatunterkünfte an der Straße, die von der (einzigen) Ampel zum Meer führt, zu versuchen. Spontan bekomme ich ein einfaches Zimmer für umgerechnet 13 Euro. Zwei junge russische Paare aus Rostow/Don und Tatarstan sitzen auf der riesigen Terrasse und trinken was mit der Besitzerin. Bereitwillig gibt diese mir eine Demonstration der acht verschiedenen K-Laute in der abchasischen Sprache, über die ich zuvor gelesen hatte. Hat fast was Schweizerdeutsches. Georgisch, sagt sie, spreche sie nicht. Aber sie meint damit wohl, sie benutzt es nicht mehr, gekonnt haben muss sie es mal. Es wird noch ein recht lustiger Abend mit viel Wodka, aber natürlich habe ich gegen die Russen keine Chance und irgendwann einen gepflegten Filmriss.
Gagra kann kommen! Es ist der bedeutendste Urlaubsort im Nordwesten Abchasien und wegen der Nähe zur russischen Grenze sehr beliebt bei den Russen. Der Wald verschmilzt hier direkt mit dem Meer, der Sonnenuntergang ist hochdramatisch. Am Strand kann man gut essen. Ich bin etwas unschlüssig, wo ich schlafen soll, denn eigentlich möchte ich evtl. morgen zum Ritsa See hinauf, die Abzweigung liegt südöstlich von Gagra, also ein Stück zurück auf der Haupstraße. Aber ich muss zuvor in Gagra Geld wechseln, in Georgien gab es ja nirgends Rubel, die hier das einzige Zahlungsmittel sind. Deswegen will ich ausnahmsweise in der Stadt schlafen. Zuerst frage ich in einem Hotel-Neubau an, scheint mir am einfachsten. Leider gab es aber ein Missverständnis, ich hatte 15 statt 50 Euro verstanden. Das ist zu teuer, meine paar Euro Scheine müssen bis zum Ende der Tour reichen. Abheben kann man ja nichts. Die freundliche Dame an der Rezeption entschuldigt sich und gibt mir den Tipp, es in einer der Privatunterkünfte an der Straße, die von der (einzigen) Ampel zum Meer führt, zu versuchen. Spontan bekomme ich ein einfaches Zimmer für umgerechnet 13 Euro. Zwei junge russische Paare aus Rostow/Don und Tatarstan sitzen auf der riesigen Terrasse und trinken was mit der Besitzerin. Bereitwillig gibt diese mir eine Demonstration der acht verschiedenen K-Laute in der abchasischen Sprache, über die ich zuvor gelesen hatte. Hat fast was Schweizerdeutsches. Georgisch, sagt sie, spreche sie nicht. Aber sie meint damit wohl, sie benutzt es nicht mehr, gekonnt haben muss sie es mal. Es wird noch ein recht lustiger Abend mit viel Wodka, aber natürlich habe ich gegen die Russen keine Chance und irgendwann einen gepflegten Filmriss.
Samstag 12. Juni 2010: Gagra I, Ritsa See (77 km)
Ich wache nach der Nacht mit den Russen schon fertig angezogen mit Schuhen auf dem Bett auf. Eieiei. Aber das Zeug war wohl ganz OK, ich bin fahrtüchtig.
Das Geheimnis war wohl der viele Saft zwischen den Wodka Stamperln, so ist man nicht dehydriert.
Meine paar Rest-Rubel will ich am Strand verfrühstücken, dann Euro wechseln und dann hinauf zum Ritsa See, der "Perle Abchasiens". Vor der einzigen Bank gibt es aber ein langes Gesicht: es ist Samstag! Eine Wechselstube finde ich nicht, und der Bankomat funktioniert nur mit russischen Karten. Nach planlosem Herumgesuche und Vor- und Zurückradeln gehe ich in ein offiziell aussehendes Gebäude, in dem man sich glaube ich für einen Arzttermin bewerben kann. Dort frage ich die Dame am Schalter, was ich jetzt bitte tun soll. Sie zuckt mit den Schultern und scheint sich nicht weiter zu interessieren, sie dreht sich weg. Mein Hilflosigkeitsgrad steigt ... dann realisiere ich, sie hat jemand angerufen, schreibt die Zahl 37,5 auf einen Zettel und wechselt mir zu genau diesem Kurs meinen 50-Euro-Schein aus ihrem Privat-Geldbeutel. Ein Engel!
Gleich hinter der Abzweigung in das Flusstal zum Ritsa See, der auf 950 m liegt, stellt sich heraus, dass die Entscheidung, den noch "mitzunehmen", nicht verkehrt war. Die Landschaft ist einfach grandios, die Natur zieht alle Register (folgende 6 Fotos und alle vom nächsten Tag). Vereinzelt gibt es Kioske mit Selbstgemachtem, ein leichter Rückenwind weht, die Straße ist top geteert, kaum Verkehr. Völliges Glück.
Insgesamt sechs Datschen hatte Stalin allein in Abchasien, eine davon am hinteren Ende des Ritsa Sees. Er war angeblich dreimal hier, nach seinem Tod ging die exquisite Immobilie an Chruschtschow, dann Breschnew, momentan nutzt sie der abchasische Präsident. Etwa 20 Leute arbeiten ständig hier. Die Schlafzimmer und Bäder sind dreimal in gleicher Ausführung vorhanden, um die Wahrscheinlichkeit von nächtlichen Mordanschlägen etwas einzudämmen, erklärt mir die junge, perfekt englisch sprechende Führerin. Nebenan gibt es ein schönes Café direkt am Seee.
Die Straße geht nördlich des Sees noch weiter hinauf Richtung Grenze zu Russland, irgendein Ort muss hier laut Karte noch kommen. Die Dämmerung zieht herauf, es gibt jetzt gar keine Autos mehr. Die Straße ist nicht mehr so gut, man muss öfters schieben bzw. das Rad über ein Gebirgsbächlein tragen. Ich bin schon ziemlich müde, aber das Gelände ist total abschüssig, keine Chance zu biwakieren. Endlich, etwa 300 HM über dem See gibt es die erste sehr schöne Gelegenheit im Wald, zwischen moosbewachsenen kleinen Granitfelsen und einem Mini-Bächlein. Plastikplane hingeworfen, Isomatte und Schlafsack drauf, und schon liege ich da wie ein Stein, beschützt von einem dichten Blätterdach.
Gleich hinter der Abzweigung in das Flusstal zum Ritsa See, der auf 950 m liegt, stellt sich heraus, dass die Entscheidung, den noch "mitzunehmen", nicht verkehrt war. Die Landschaft ist einfach grandios, die Natur zieht alle Register (folgende 6 Fotos und alle vom nächsten Tag). Vereinzelt gibt es Kioske mit Selbstgemachtem, ein leichter Rückenwind weht, die Straße ist top geteert, kaum Verkehr. Völliges Glück.
Sonntag 13. Juni 2010: Avadkhara, Ritsa See (66 km)
Es wird einer der genialsten Tage überhaupt. Ich bin sehr gespannt, was jetzt noch kommt. Die Natur wird zunehmend (noch) spektakulärer.
Endlich kommen ein paar Häuser, aber leer. Dann bellen wo zwei Hunde und ein Mann schaut aus einer dreieckigen Holzhütte, in deren Fenster sich die Berge spiegeln (folgendes Foto). Krass, habe noch nie so blutrote Augen gesehen. Ich grüße und frage, ob/wo es etwas zu essen gibt. Er brummt etwas, geht zurück in seine Hütte, kocht mir zuerst Kaffee, dann einen Riesenteller Suppe, dazu stellt er einen Berg Brot mit Käse hin. Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll ... was OK ist, hier wird nicht viel geredet. Selber begnügt er sich derweil mit Wein und Wodka. Unter seinem Bett liegt eine Axt. Er ist hier der Parkwächter. Ob man von hier aus "obenrum" nach Krasnaya Polyana in Russland fahren kann, frage ich, irgendwas ist in der Karte eingezeichnet. Nein, das würde nicht mal er tun und macht dazu (genau wie alle anderen Leute, die ich im Lauf des Tages fragen werde) eine "Kopf-ab" Handbewegung, was auch immer das konkret heißt. Irgendwie ginge das nur mit Spezialgenehmigung.
Während ich mich über seine Vorräte hermache, weiß ich noch nicht, was einen Kilometer später eh kommt: eine Oase! Die Hütte mit großer Terrasse steht am Gebirgsbach, ein schönes Wasserfall ist in der Nähe. Aus dem Brunnen kommt Mineral-Sprudelwasser. Am Kiosk gibt es Bier, nebenan wird gegrillt und geräuchert. Angeblich haben die beiden Jungs die Tiere persönlich erlegt. Ich bleibe den ganzen Tag, es ist das Paradies, und zwar fern von Strom- und Handynetz. Ab und zu kommt ein Jeep mit abchasischen und vor allem russischen Touristen. Sie essen, relaxen und fahren wieder. Ich komme mit einigen sehr interessanten Leuten ins Gespräch, soweit das meine paar Brocken Russich erlauben. Eine junge Familie, deren Vater auf Sachalin arbeitet und Mutter und Tochter ein bisschen Englisch können, will unbedingt, dass wir mein Rad in ihr Auto werfen, und ich mit an die Küste nach Pitsunda komme, wo sie wohnen. Abends gäbe es eine Weinprobe bei Freunden. Ich glaube, sie freuen sich tatsächlich, einen westlichen Ausländer kennengelernt zu haben, und lassen nicht locker. Leider kann ich aber natürlich nicht auf die Abfahrt verzichten, wir sind hier auf 1600 Meter!
*****
Nachtrag: Als ich im Jahr darauf wieder hier vorbeischaue, spricht mich tatsächlich einer der Gäste an und sagt, er kennt mich! Klar, ich sei doch die eine Radfahrerin, die ihn letztes Jahr genau hier um den Weg gefragt habe. Er sei Jeepfahrer und deswegen öfter hier. Gibt's ja nicht, mitten in den abchasischen Bergen!
Die Straße geht hinter der Oase noch ein paar km weiter, dann steht man vor dem Fluss, über den die Brücke fehlt. Angeblich kann man noch 7 km zu Fuß weitergehen bis zur Grenze nach Russland, wo definitiv Schluss ist (und dann angeblich der Kopf abfällt).
Zurück in der Oase, schlagen die Betreiber vor, ich könne bei Ihnen übernachten. Schweren Herzens reiße ich mich dennoch los, ich muss morgen abend zum Flughafen und darf keine Fahrradpanne mehr haben. Trostpflaster ist DIE Wahnsinns Abfahrt von 1600 Meter Richtung Meereshöhe. Zuerst geht es bis zum Ritsa See wieder über Stock und Stein und kleine Bäche, ab dem See ist top geteert. Dazu fast kein Verkehr.
An der abschüssigsten Stelle stürzte während der Bauarbeiten zu Stalins Datscha ein Lastwagenfahrer über den Hang in den Tod. Diese Stelle ist nun nach seinen letzten Worten "Leb wohl, Mutterland!" / "Прощай, Родина!" benannt.
Unten, an der engsten Stelle der Schlucht, kaufe ich bei den Marktständen eine DVD über die Anfänge des Tourismus in Abchasien aus den 1950ern (hier auf youtube), der Verkäufer hätte sich aber mehr gefreut, wenn ich die 3,5 Stunden Doku "Die ganze Wahrheit über den Abchasien-Krieg" auf Russisch genommen hätte. Ein paar Kilometer vor der Einmündung in die Hauptstraße nach Gagra schlage ich, von wilden Glühwürmchen umschwirrt, in einer lauschigen Waldeinfahrt mein allerletztes Biwak auf.
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Nachtrag: Als ich im Jahr darauf wieder hier vorbeischaue, spricht mich tatsächlich einer der Gäste an und sagt, er kennt mich! Klar, ich sei doch die eine Radfahrerin, die ihn letztes Jahr genau hier um den Weg gefragt habe. Er sei Jeepfahrer und deswegen öfter hier. Gibt's ja nicht, mitten in den abchasischen Bergen!
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