Donnerstag, 25. November 2010

Freitag 11. Juni 2010: Gagra I (86 km)

Die Nacht ist recht stürmisch, hinter dem Hügel tobt ein ordentliches Gewitter, der gelegentlich herüberschwappende Wind fegt mich fast weg. Genial, die Elemente so hautnah zu erleben. Am Morgen ist alles wieder ruhig und sonnig, als wäre nichts gewesen. Nebenan lädt der glasklare Gumista, der direkt aus dem Kaukasus herunterströmt, zu einem erfrischenden Morgenbad ein. Das sind sie, die glücklichen Momente im Leben. Erst jetzt bei Tageslicht sehe ich, dass in den zerbombten Häusern hier, im Gegensatz zu den bisherigen Ruinen, sogar noch die Einrichtung herumliegt: Möbel, Geschirr, Bücher, Kinderwägen ... das alles ist, wie ganz Abchasien, ein völliger Widerspruch zur Schönheit der Natur und zur ruhigen, friedlichen Gesamtstimmung.
Das war nicht der nächtliche Sturm
Eine ganze Bibliothek liegt herum
Die mächtige, historische Brücke über den Gumista, ist, wie so vieles in Abchasien, "verziert" mit Bildern von Gefallenen und abchasischen Fähnchen.
Gefallene
Brücke über den Gumista
Während ich am Straßenrand per Handy was Dringendes mit dem Installateur zu Hause regeln muss, kommt eine armenische Hirtin aus dem Wald und hat ebenfalls Ärger am Hals: Ihre Kühe lassen sich nicht davon abbringen, sich immer wieder mitten auf die Fahrbahn zu pflanzen. Der nächste Höhepunkt ist das malerisch in den Hügel gebaute Kloster Nowy Afon, das man besucht haben muss. Es war Anfang des 20. JH die letzte Klostereröffnung der Russisch-Orthodoxen Kirche vor der Oktoberrevolution 1917. Schon die Aussicht vom Kloster zum Meer ist phantastisch.
Kloster Nowy Afon
Blick von Nowy Afon aufs Schwarze Meer
Bei der Abzweigung zum Kloster gibt es ein Kriegsmuseum, der Krieg ist wirklich ständig präsent.
Die Erinnerung an den Krieg 1992/93
... ist allgegenwärtig
In der Nähe von Gudauta liegt am Straßenrand ein Weinmuseum mit Degustationsmöglichkeit. Die Leute sind wieder sehr nett und interessiert bzw. interessant. Ich erfahre (mit Vorbehalt, mein Russisch ist wirklich nur rudimentär), dass 80 % der Abchasen einen russischen Pass haben, und dass der vorerst für 6 Jahre gültig ist. Beim Thema, wie ich heimkomme, sage ich Sotschi und das russische Wort für Flugzeug. Ein Mann antwortet auf deutsch, ah, "Luftwaffe"!! Dann rauscht der Zug Suchum-Moskau vorbei, die Linie ist neuerdings wieder in Betrieb. Kurz vor Gagra habe ich nochmal eine Panne. Der zweite und letzte von meinen beiden Flicken wird verbraucht, das war evtl. doch etwas knapp kalkuliert in meinem Gewichtsspar-Wahn. Jetzt darf also nichts mehr passieren. Aber schließlich hatte ich früher nie mehr als eine Panne. Ein Mann fragt, ob er helfen kann, muss aber gleich seine Kollegen mit dem Auto heimbringen. Er kommt wieder zurück und leiht mir sein Werkzeug (meinen Schraubenschlüssel hatte ich aus Gewichtsgründen unterwegs verschenkt) sowie die dritte Hand, die hier immer fehlt. Dann holt er ungefragt im Laden nebenan Wasser, damit ich meine Hände waschen kann. Diese (unaufdringliche) Hilfsbereitschaft von allen Seiten ist wirklich erstaunlich.

Gagra kann kommen! Es ist der bedeutendste Urlaubsort im Nordwesten Abchasien und wegen der Nähe zur russischen Grenze sehr beliebt bei den Russen. Der Wald verschmilzt hier direkt mit dem Meer, der Sonnenuntergang ist hochdramatisch. Am Strand kann man gut essen. Ich bin etwas unschlüssig, wo ich schlafen soll, denn eigentlich möchte ich evtl. morgen zum Ritsa See hinauf, die Abzweigung liegt südöstlich von Gagra, also ein Stück zurück auf der Haupstraße. Aber ich muss zuvor in Gagra Geld wechseln, in Georgien gab es ja nirgends Rubel, die hier das einzige Zahlungsmittel sind. Deswegen will ich ausnahmsweise in der Stadt schlafen. Zuerst frage ich in einem Hotel-Neubau an, scheint mir am einfachsten. Leider gab es aber ein Missverständnis, ich hatte 15 statt 50 Euro verstanden. Das ist zu teuer, meine paar Euro Scheine müssen bis zum Ende der Tour reichen. Abheben kann man ja nichts. Die freundliche Dame an der Rezeption entschuldigt sich und gibt mir den Tipp, es in einer der Privatunterkünfte an der Straße, die von der (einzigen) Ampel zum Meer führt, zu versuchen. Spontan bekomme ich ein einfaches Zimmer für umgerechnet 13 Euro. Zwei junge russische Paare aus Rostow/Don und Tatarstan sitzen auf der riesigen Terrasse und trinken was mit der Besitzerin. Bereitwillig gibt diese mir eine Demonstration der acht verschiedenen K-Laute in der abchasischen Sprache, über die ich zuvor gelesen hatte. Hat fast was Schweizerdeutsches. Georgisch, sagt sie, spreche sie nicht. Aber sie meint damit wohl, sie benutzt es nicht mehr, gekonnt haben muss sie es mal. Es wird noch ein recht lustiger Abend mit viel Wodka, aber natürlich habe ich gegen die Russen keine Chance und irgendwann einen gepflegten Filmriss.
Traumradeln
Sonnenuntergang in Gagra