Dienstag, 25. Januar 2011

Mittwoch 9. Juni 2010: Sugdidi, Grenze Georgien-Abchasien, Gali, Otschamtschire (124 km)

Heilfroh bin ich, als der Tag anbricht. Es geht nach Sugdidi, der letzten georgischen Stadt vor der abchasischen Grenze. Entlang der Straße stehen Ruinen neben bewohnten, eleganten Villen mit gebügeltem Rasen (Foto). Und es begegnet mir, nach Akhmeta und Stepantsminda, die dritte Stalin-Statue außerhalb seiner Geburtsstadt Gori, d.h. in dem Fall nur eine Büste (Foto). An einem heruntergekommenen Kiosk suchen der Besitzer und ich ein Frühstück zusammen. Wir riskieren einen Blick in den nicht-aktivierten Kühlschrank, in dem es ganz schön schimmelt und wuchert. Siehe da, ein Trinkjoghurt, er ist tatsächlich nur außen verschimmelt und erst vor kurzem abgelaufen, was will man mehr? Milchprodukte waren in ganz Georgien außerhalb der Städte eine Seltenheit.
Georgische Villa kurz vor der Grenze
Stalin
Über Sugdidi hatte ich im Vorfeld gelesen, man sollte seinen Aufenthalt dort auf ein Minimum begrenzen. Es gibt soziale Spannungen, da die Stadt wegen der Nähe zu Abchasien einen Großteil der etwa 250'000 georgisch-abchasischen Flüchtline aufnehmen musste, was die Einwohnerzahl schlagartig verdoppelt hat. Der Anteil der Georgier, die Abchasien lieber heute als morgen zurückerobern möchten, ist hier höher als sonstwo in Georgien. Selbst der Limoverkäufer am Straßenrand trägt seinen Revolver am Hosenbund sehr demonstrativ. Abgesehen davon gibt es das sehenswerte Dadiani-Museum mit gepflegtem französichen Park, erbaut von einem Enkel der Schwester Napoleon Bonapartes. Es beherbergt u.a. eine der drei Totenmasken Napoleons. In keiner Bank in Sugdidi komme ich übrigens an Rubel, weder mit Bargeld, noch mit Karte. Jetzt habe ich nur noch ein paar Euronoten in der Hinterhand. Die Aufregung steigt, nur noch wenige Kilometer sind es bis zur abchasischen Grenze.

Nun geht es los: als erstes kommt der kleine georgische Grenzposten, wo mein Name in ein Buch eingetragen wird und ich keinen Ausreisestempel bekomme. Das übrigens auch später nicht, ich bin also bis heute nicht offiziell aus Georgien ausgereist, was heißt, dass ich mit diesem Pass eigentlich nicht wieder nach Georgien einreisen kann. Und schon habe ich Ärger am Hals: nur vermeintlich unbeobachtet hatte ich nämlich hinter dem Häuschen meine kleine zerfledderte Georgien-Papierfahne vom Gepäckträger in die Mülltonne geworfen und diesen Vorgang auch noch fotografiert! Dumm gelaufen, die Georgier sind sehr verstimmt. Schnell hole ich sie wieder aus der Mülltonne, stecke das zerfledderte Ding auf mein Fahrrad, lösche das Foto brav for ihren Augen und entschuldige mich hundert mal. Das hätte noch gefehlt, dass die mir einen Strick drehen.
Fast wie Frankreich: Dadiani Museum in Sugdidi
Georgisches Grenzhäuschen, kein Ausreisestempel

Dann geht es die 1000 Schritte über den Enguri Fluss, d.h. über die 1944-48 von deutschen Kriegsgefangenen erbaute Brücke. Außer mir gibt es vor allem die Frauen in schwarzer Witwenkleidung, es ist alles noch ziemlich so wie in dem Bericht "Die Brücke der Deutschen" aus 2004. Auf der Brücke steht nochmal ein Checkpoint, wo ich kontrolliert werde. Jenseits des Flusses kommt der russische Grenzposten. Auf youtube hatte ich zuvor gesehen, wie ein BBC Reoprter dort immer wieder abgewiesen wurde, und zwar ohne Diskussion einfach "kicked out" (Video ab 3'22 aus der übrigens sehr sehenswerten Reihe "Places that don't exist"). Offenbar kommt hinter der Grenze eine Gegend, die man der Welt nicht so gerne zeigen will. Ich zähle auf meine vor fünf Tagen per Mail als pdf-Anhang erhaltene und ausgedruckte "Clearance", die Einreiseerlaubnis vom abchasischen Außenministerium. Vorsichtig schiebe ich mein Rad im Slalom durch die Betonsperren. An Fahrzeugen gibt es ansonsten nur Pferdekutschen wie in alten Westernfilmen, später Marschrutki, also Kleinbusse. Jetzt nur nichts falsch machen. Und was ist? Die russischen Beamten sind supernett, fast kumpelhaft, passt alles, und schon bin ich durch. Mir kommt es vor, als hätte man zudem als weitgereister Radfahrer einen gewissen Sympathie-Vorsprung bei den auftrainierten, waschbrettbäuchigen Russen. "Bis nachher" sagen sie noch, sie werden mich ja nach Dienstschluss überholen, es gibt hier nur die eine Hauptstraße. Und dann bin ich drin!!! Mir ist, als hätte ich soeben einen Zauberwald betreten, ich kann mein Glück kaum fassen.
Clearance - Einreisezettel nach Abchasien
Juhu, die ersten Meter in Abchasien
Es ist seltsam, ohne mit einer Menschenseele gesprochen zu haben, und obwohl die Südhälfte von Abchasien als Konfliktregion gilt, und immer noch Reisewarnungen vom Auswärtigen Amt ausgesprochen werden, fühle ich mich von Anfang an hier deutlich sicherer als auf der angespannt-aggressiven georgischen Seite der Grenze. Es geht vorbei an Ruinen über Ruinen von ehemals prächtigen Villen, aus denen Palmen und Rhododendren wuchern. Vereinzelt gibt es georgische Friedhöfe, neben manchen Gräbern steht Wodka für die Verstorbenen zum Trinken bereit.
Ruinen über Ruinen
Glückliche abchasische Schweine
Die Straße ist hier im Süden meist nicht besonders gut, aber man kann die Schlaglöcher gut umfahren. Nur kurze Abschnitte sind von der UNOMIG repariert. Es gibt wenig Verkehr, nur ab und zu Marschrutki, UN Fahrzeuge, einen hohen Fahrrad-Anteil und immer wieder Kühe, Schweine und Pferde auf der Fahrbahn. Ab und zu stehen Kioske am Straßenrand, die Versorgungslage ist gesichert.
Straße im Süden Abchasiens meist holprig
Gibt noch einiges zu reparieren
Die Stadt Gal, die in den Reisewarnungen als besonders kritisch erwähnt wird, ist tatächlich in einem extrem desolaten Zustand und ziemlich entvölkert. Praktisch kein unbeschädigtes Haus ist zu sehen. An der zentralen Kreuzung gibt es überraschend einen Wasserhahn mit Trinkwasser. Ich mache eine Siesta unter einem Baum. Beim Aufwachen kommen drei Kinder mit Hund vorbei, die mir andeuten, ich solle mich nicht vom Fleck rühren. Kurz danach bringen sie mir eine Tüte voller pflaumenartiger Früchte vorbei. Oh, das reicht für zwei Wochen.
Weitgehend zerstört: Zentrum von Gal
Meine ersten abchasischen Bekannten
Wieder im Sattel, überholen mich tatsächlich die Russen von der Grenze. Sie bleiben quer vor mir stehen, zwingen mich zum Absteigen und erklären mir genau, wo ich das Außenministerium in Suchum finde (Lakoba 21). Ich bekomme noch eine Handynummer, falls es Probleme gibt. Außerdem lästern sie, wenn ich weiter so sandel, schaffe ich es nicht mehr bis Suchum. Jaja, bin ja grad erst von der Siesta aufgewacht, außerdem möchte ich gar nicht bis Suchum fahren, sondern vorher biwakieren, was ich aber nicht jedem erzählen will.

Kurz vor Otschamtschire wird das Schwarze Meer sichtbar! Wie hatte ich mich darauf gefreut. Seit Jahren kurve ich zum, vom, am Schwarzen Meer herum. Ich bade kurz am leeren Strand mit den schwarzen Kieselsteinen und schlage nach ein paar Stunden stimmungsvoller Fahrt in den Sonnenuntergang hinein neben der Straße mein Nachtlager auf.
Otschamtschire
Das Schwarze Meer bei Otschamtschire
Überall Ruinen
Abendstimmung

*****
Nachtrag I: entgegen meinem persönlichen friedlichen Eindruck als Tourist lese ich nachträglich auf der Homepage des abchasischen Außenministeriums, dass Anfang Juni 2010, also wenige Tage zuvor, in der Region Gal zwei abchasische Beamte georgischen Anschlägen zum Opfer gefallen sind:
"Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Abkhazia is extremely worried by the renewed terrorist activity carried out by the Georgia side. On the 1st of June in Gal district, as the result of attack an officer of the State Customs Committee of the Republic of Abkhazia was killed, moreover and on 4th of June at the hands of terrorists the Head of the administration of the village Rep of Gal district Dmitry Katsia was killed. [...] We also call upon the representatives of the EU monitoring mission, to take the responsibility to carry out their tasks, to prevent a new escalation of the conflict and take necessary measures to prevent such provocations in the conflict zone."