Donnerstag, 25. November 2010

Donnerstag 10. Juni 2010: Suchum (60 km)

Traumbiwakplatz
Abchasische Straßensperren
Noch 37 km sind es bis zur abchasischen Haupstadt Suchum. Genial der Moment, in dem ich realisiere, dass die vermeintlichen Wolken am Horizont in Wirklichkeit Berge sind. Die Versorgungslage ist vorbildlich, die Lebensmittelläden werden Richtung Nordwesten immer besser, aber es gab von Anfang an kleine Kioske, ich brauche kein Gramm Essen oder Trinken zu transportieren. Teilweise bieten mir Leute ungefragt an, mich nach Suchum mitzunehmen, aber das kann ich natürlich nicht annehmen, das hier ist Paradiesradeln! Ein Kleinbusfahrer will mein Fahrrad probefahren. Wieviel es gekostet hat, will er wissen. Haha, das sei mehr als sein Kleinbus. Aber tauschen will ich doch nicht.
Traumkulisse
Freundliche Menschen überall
Suchum ist zum Teil schon sehr schön renoviert, Kriegswunden sind aber auch hier noch überall sichtbar. Insbesondere das ausgebrannte Regierungsgebäude, ein Symbol des Krieges, sieht noch genauso aus wie auf den Kriegsfotos. Und heute sitzen Männer jeden Alters an der Strandpromenade unter den Platanen beim berühmten Kaffee-Kiosk, wo man sofort merkt, genau hier, auf diesen paar Quadratmetern, schlägt das Herz des kleinen Landes. Man diskutiert oder spielt Schach oder Backgammon. Die Atmosphäre könnte friedlicher nicht sein. Leider habe ich absolut keine Informationen, was man besichtigen kann, auch der Lonely Planet schweigt sich hierzu aus. Aber ich komme ja wieder.
Ausgebranntes Regierungsgebäude in Suchum
Das Herz von Abchasien
Mein wichtigster Auftrag ist ohnehin zunächst, das Visum abzuholen (Antrag hier auf der MFA Website). Ins Außenministerium in der Lakoba 21 darf ich erst hinein, als ich eine lange Hose übergezogen habe, ist ja wie in der Kirche. Die Visavergabe ist in einem großen Hörsaal, die meisten Angestellten sind sehr jung, die Atmosphäre hat was Studentisches. Ich werde direkt zu einer perfekt englisch sprechenden Dame geschickt. Von der Einreiseerlaubnis hatte ich meinen einzigen Ausdruck an der Grenze abgegeben, aber es genügt, dass ich ihnen die pdf Datei auf dem iPhone zeigen kann, auf dem sie übrigens sehr geübt herumscrollt. Nun muss ich zuerst die Gebühr von 20 USD bezahlen. Das hätte ich auch vorab machen können, wenn ich gewusst hätte, wo - nämlich in der Sberbank/Сбербанк am Hafen, etwa 10 Minuten mit dem Rad entfernt. Der Dollarbetrag muss dort in Rubel bezahlt werden. Mit dem Beleg geht es zurück ins Außenministerium. Gespannt warte ich darauf, wie das Visum wohl aussieht ... und dann kommt der Hammer: Man erklärt mir mit ernster Miene, es gäbe da ein Problem, Transit durch Abchasien geht nicht. Ich hätte es ihnen vorab sagen sollen, dann hätten sie mich entsprechend informiert. Schock! Ich stammle was von ... dass ich glaube, ich hätte schon in der Begleitmail zum Visumsantrag geschrieben, dass ich aus Georgien komme und zum Flughafen Sotschi muss. Und dass ich nur wusste, Transit in die andere Richtung sei nicht möglich wegen illegaler Einreise nach Georgien. Aber den Mailausdruck habe ich natürlich nicht hier. Wie mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen setze ich mich wieder hin. Dann fällt mir ein, ich hatte mir in einem Moment geistiger Anwesenheit die Mail zusätzlich selber zugeschickt und als Entwurf auf dem iPhone gespeichert (Mails abrufen funktioniert ja seit der Ausreise aus Aserbaidschan nach Georgien nicht mehr). Ich laufe zur Dame zurück und will die Mail herzeigen. Ich weiß nicht, ob die Dame die Mail inzwischen selber gefunden hat oder mir das Visum auch so gegeben hätte. Jedenfalls sagt sie in beruhigendem Ton "you will not have a problem" und händigt mir mein Visum aus! Ein tonnenschwerer Stein fällt mir vom Herzen. Es ist nur ein loses Blatt, in den Pass wird nichts gestempelt oder geklebt. Bei der Ausreise braucht man das Visum unbedingt, sonst "darf" man hierbleiben.
Im provisorischen Außenministerium
Mein Abchasien Visum!
Was es tatsächlich geheißen hätte, wenn sie mich zurückgeschickt hätten: Rückfahrt nach Georgien, nochmal ins (zumindest bei Dunkelheit) gruslige Sugdidi, Fähre vom georgischen Poti oder Batumi in die Türkei nach Hopa oder Trabzon, von dort Fähre nach Sotschi, denn die direkten Fährverbindungen von Georgien nach Russland existieren zwar, sind jedoch, wie die Grenzübergänge zu Land, z.B. der an der georgischen Heerstraße, für Ausländer gesperrt. Dies hätte wohl eine Woche Zeit gekostet. In Zukunft reise ich nach Abchasien nur noch über Russland, also von Nordwesten her ein und wieder aus, Punkt. Nach Georgien darf ich mit meinem Reisepass eh nicht mehr, da der offizielle Ausreise-Stempel fehlt.

Zentrum von Suchum
... und vom Meer aus
In einem der sehr netten Restaurants an der Strandpromenade isst der Herr an meinem Tisch tatsächlich Mamaliga mit Käse und saurer Sahne, das kannte ich bisher nur aus Rumänien. Auch hier ein Nationalgericht. Nina, eine Nachwuchs-Popsängerin aus Gagra, winkt mich an ihren Tisch, als sie merkt, dass ich Ausländerin bin. Sie ist mit ihrem Vater hier, um das neue Autokennzeichen abzuholen. Er ist Georgier, das erkennt man schon am Nachnamen auf "...dze". Offenbar einer der wenigen glücklichen Georgier in Abchasien. Sie verbringen gerade die Sommerferien zu Hause in Gagra, während des Semesters siedelt die ganze Familie dann nach Moskau über, wo jeder mitanpackt und jobbt, um das kostpielige Studium der Tochter zu finanzieren. Per Handy-Upload bekomme ich eine Hörprobe, gar nicht schlecht. Nina spricht fließend abchasisch, georgisch, russisch, englisch und italienisch, außerdem singt sie manchmal auf israelisch oder französisch. Ich erzähle ihnen von den Reisewarnungen und wir sind uns einig, Abchasien ist das friedlichste Land, das man sich vorstellen kann. Ich soll mich unbedingt bei ihnen melden, wenn ich in Gagra bin, dann kann ich bei ihnen wohnen, nicht weit vom Strand.

Es ist schon dunkel, als ich die Hauptstadt verlasse. Von außen kann ich einen Blick in den botanischen Garten werfen. Der Bahnhof am nordwestlichen Stadtrand ist wie der in Sotschi stark von der Petersburger Admiralität inspiriert. Natürlich ist entlang der (einzigen) Straße ab Suchum alles besiedelt. Endlich finde ich ein ruhiges Plätzchen zwischen Kriegsruinen (Fotos s. nächster Tag). Ach ja, und ich habe im Gegensatz zu Georgien nicht die geringsten Probleme, nachts herumzufahren, ich fühle mich absolut sicher.
Abchasisches Autokennzeichen
Bahnhof Suchum