Donnerstag, 25. November 2010

Sonntag 13. Juni 2010: Avadkhara, Ritsa See (66 km)

Es wird einer der genialsten Tage überhaupt. Ich bin sehr gespannt, was jetzt noch kommt. Die Natur wird zunehmend (noch) spektakulärer.
Wieder ein Traumbiwakplatz
Nördlich des Ritsa Sees
Endlich kommen ein paar Häuser, aber leer. Dann bellen wo zwei Hunde und ein Mann schaut aus einer dreieckigen Holzhütte, in deren Fenster sich die Berge spiegeln (folgendes Foto). Krass, habe noch nie so blutrote Augen gesehen. Ich grüße und frage, ob/wo es etwas zu essen gibt. Er brummt etwas, geht zurück in seine Hütte, kocht mir zuerst Kaffee, dann einen Riesenteller Suppe, dazu stellt er einen Berg Brot mit Käse hin. Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll ... was OK ist, hier wird nicht viel geredet. Selber begnügt er sich derweil mit Wein und Wodka. Unter seinem Bett liegt eine Axt. Er ist hier der Parkwächter. Ob man von hier aus "obenrum" nach Krasnaya Polyana in Russland fahren kann, frage ich, irgendwas ist in der Karte eingezeichnet. Nein, das würde nicht mal er tun und macht dazu (genau wie alle anderen Leute, die ich im Lauf des Tages fragen werde) eine "Kopf-ab" Handbewegung, was auch immer das konkret heißt. Irgendwie ginge das nur mit Spezialgenehmigung.
Haus des Parkwächters
... von innen
Während ich mich über seine Vorräte hermache, weiß ich noch nicht, was einen Kilometer später eh kommt: eine Oase! Die Hütte mit großer Terrasse steht am Gebirgsbach, ein schönes Wasserfall ist in der Nähe. Aus dem Brunnen kommt Mineral-Sprudelwasser. Am Kiosk gibt es Bier, nebenan wird gegrillt und geräuchert. Angeblich haben die beiden Jungs die Tiere persönlich erlegt. Ich bleibe den ganzen Tag, es ist das Paradies, und zwar fern von Strom- und Handynetz. Ab und zu kommt ein Jeep mit abchasischen und vor allem russischen Touristen. Sie essen, relaxen und fahren wieder. Ich komme mit einigen sehr interessanten Leuten ins Gespräch, soweit das meine paar Brocken Russich erlauben. Eine junge Familie, deren Vater auf Sachalin arbeitet und Mutter und Tochter ein bisschen Englisch können, will unbedingt, dass wir mein Rad in ihr Auto werfen, und ich mit an die Küste nach Pitsunda komme, wo sie wohnen. Abends gäbe es eine Weinprobe bei Freunden. Ich glaube, sie freuen sich tatsächlich, einen westlichen Ausländer kennengelernt zu haben, und lassen nicht locker. Leider kann ich aber natürlich nicht auf die Abfahrt verzichten, wir sind hier auf 1600 Meter!

*****
Nachtrag: Als ich im Jahr darauf wieder hier vorbeischaue, spricht mich tatsächlich einer der Gäste an und sagt, er kennt mich! Klar, ich sei doch die eine Radfahrerin, die ihn letztes Jahr genau hier um den Weg gefragt habe. Er sei Jeepfahrer und deswegen öfter hier. Gibt's ja nicht, mitten in den abchasischen Bergen!
Räucherkammer
Abchasischer Haushaltsgegenstand
Die Straße geht hinter der Oase noch ein paar km weiter, dann steht man vor dem Fluss, über den die Brücke fehlt. Angeblich kann man noch 7 km zu Fuß weitergehen bis zur Grenze nach Russland, wo definitiv Schluss ist (und dann angeblich der Kopf abfällt).
Paradiesisch
Ende der Straße 7 km vor der russischen Grenze
Zurück in der Oase, schlagen die Betreiber vor, ich könne bei Ihnen übernachten. Schweren Herzens reiße ich mich dennoch los, ich muss morgen abend zum Flughafen und darf keine Fahrradpanne mehr haben. Trostpflaster ist DIE Wahnsinns Abfahrt von 1600 Meter Richtung Meereshöhe. Zuerst geht es bis zum Ritsa See wieder über Stock und Stein und kleine Bäche, ab dem See ist top geteert. Dazu fast kein Verkehr. An der abschüssigsten Stelle stürzte während der Bauarbeiten zu Stalins Datscha ein Lastwagenfahrer über den Hang in den Tod. Diese Stelle ist nun nach seinen letzten Worten "Leb wohl, Mutterland!" / "Прощай, Родина!" benannt. Unten, an der engsten Stelle der Schlucht, kaufe ich bei den Marktständen eine DVD über die Anfänge des Tourismus in Abchasien aus den 1950ern (hier auf youtube), der Verkäufer hätte sich aber mehr gefreut, wenn ich die 3,5 Stunden Doku "Die ganze Wahrheit über den Abchasien-Krieg" auf Russisch genommen hätte. Ein paar Kilometer vor der Einmündung in die Hauptstraße nach Gagra schlage ich, von wilden Glühwürmchen umschwirrt, in einer lauschigen Waldeinfahrt mein allerletztes Biwak auf.
"Leb wohl, Mutterland!"
Eine der besten (die beste?) Abfahrten meines Lebens